Der Chef sieht nichts

Greven – „Würden Sie mir wohl einen Kaffee eingießen?“ Volker Knapheide sitzt im Chef-Büro der Grevener Schule an der Ems und bittet den Besucher um einen kleinen Gefallen, „ich sehe das nicht.“
Daran muss man sich erst einmal gewöhnen. Knapheides grau-blaue Augen sind blind. Der 46-jährige neue Leiter der Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung ertastet seine Tasse, trinkt den Kaffee schwarz. „Fenster, Tisch, Licht kann ich wahrnehmen“, sagt er, „aber mehr nicht.“ Aufgewachsen ist Knapheide in Laggenbeck. Als Jugendlicher war er Leichtathlet und fuhr Fahrrad. Er war kurzsichtig und nachtblind. Wenn seine Kumpel im Dunkeln auf Juck gingen, nahmen sie ihn auf dem Tandem mit. Aber er wusste, dass er an einer Erbkrankheit litt. Retinitis pigmentosa, die Kraft der Sehsinneszellen lässt dabei immer mehr nach. Sein jüngerer Bruder leidet daran, ein Cousin auch. „In meiner Erinnerung“, sagt er, „gibt es keinen Moment, an dem mir das nicht bewusst war.“
Erste Stelle in Köln
Seine Eltern gingen offen mit der Krankheit um, sie dachten praktisch. „Ich habe einen Schreibmaschinenkurs gemacht“, lacht Knapheide und zieht sein iPad aus der Aktentasche. Im Zehn-Fingersystem tippt er Notizen. Eine scheppernde Frauenstimme liest Briefe und Mails vor. Unnatürlich schnell klingt das. Studiert hat Knapheide Sonderpädagogik in Dortmund. Da konnte er noch genug sehen, um alleine Bahn zu fahren. Seine erste Stelle trat er in Köln an einer Förderschule an. Und hier traf er einen blinden Kollegen, der ihn in seine Geheimnisse einweihte: Die digitalen Hilfsmittel, damals erst in der Entwicklung und sehr teuer. Außerdem die Möglichkeit, eine Arbeitsassistenz zu bekommen. Sein Assistent ist Siegfried Terzenbach . 20 Stunden pro Woche hilft er Knapheide bei den Dingen, für die man sehen muss. Er fährt ihn zu Außentermine, führt in Gesprächen Notizen. „Das ist sehr hilfreich“, sagt der Schulleiter. Terzenbach ist der stille Mann im Hintergrund.
Brailleschrift hat Knapheide nie gelernt
Als Kind hat Knapheide kurz die Iris-Förderschule für Sehbehinderte in Münster besucht. „Aber das war nichts für mich“, sagt er. Trotz seiner damaligen Sehschwäche schlug er sich durch das normale Schulsystem. Ein Fall gelebter Inklusion. „Manchmal“, erinnert er sich, „wurde Texte für mich vergrößert oder ich bekam mehr Zeit bei den Klassenarbeiten.“ Seine Mitschüler nahmen ihn wie er war: „Ich konnte am normalen Leben teilnehmen.“ Die Brailleschrift für Blinde hat Knapheide nie gelernt. „Manche empfehlen mir, das noch zu machen“, sagt er, „weil man dann besser lesen könnte.“ Andererseits lesen heute Handys und Tablets fast alles, womit man sie füttert. Immerhin, demnächst beginnt der Schulleiter einen Kurs mit dem Langstock. Er will sich orientieren lernen, um zum Beispiel mit dem Bus nach Greven fahren zu können: „Die Verbindung ist super.“ Knapheide hat drei Kinder. Mit seiner Frau, einer Bonnerin, lebt er in Saerbeck. „Regelmäßig jogge ich da“, sagt der begeisterte Sportler, „meine Tochter fährt auf dem Rad nebenher. Auf den Wegen kommt ja selten ein Auto.“
Schulmotto von Aristoteles
Seit es die Schule an der Ems gibt, war Knapheide stellvertretender Schulleiter. Als seine Vorgängerin Renate Tanner pensioniert wurde, warf er seinen Hut in den Bewerbungs-Ring. Er wurde zum Assessment-Center geladen, zwei Tage Test in einem Tagungshotel mit anderen Bewerbern. Er bestand mit Bravour. Jetzt ist er der Chef eines 25-Mitarbeiter-Teams. Er kann sich auf seine Leute verlassen. Dass er blind ist, bedeutet für manchen eine Umstellung. Aber Schulsekretärin Hildegard Heitmann sagt auch: „Es ist eine Bereicherung.“ Besuch in einer Schulklasse. Die Kids sind laut und unruhig. Der Schulleiter bliebt gelassen: „Sie begegnen mir sehr respektvoll und wertschätzend. Und sie haben viele Fragen.“ Vielleicht vertrauen ihm die Schüler, weil er zeigt, wie man mit Handicap Erfolg haben kann. Man müsse daran arbeiten, sagt er, verborgene Talente zu fördern. Das Schulmotto stammt von Aristoteles: „Wir können den Wind nicht ändern. Aber die Segel anders setzen.“ Manchmal haben die Schüler natürlich auch den Schalk im Nacken sitzen. Dann vergessen sie mal, dass ihr Chef blind ist. „Herr Knapheide“, raunt ein Mädchen aus dem Hintergrund, „Sie haben da Kreide am Rücken.“